Familienpflegezeit und/oder Pflegezeit.

Glücks- oder Fehlgriff des Gesetzgebers?

Am 1. 7. 2008 trat das Pflegezeitgesetz(PflegeZG) in Kraft.

Ziel des Gesetzes ist, Beschäftigten die Möglichkeit zu eröffnen, pflegebedürftige nahe Angehörige in häuslicher Umgebung zu pflegen und damit die Vereinbarkeit von Beruf und familiärer Pflege zu verbessern (§ 1 PflegeZG).

Arbeitnehmer haben nach dem Pflegezeitgesetz von 2008 die Möglichkeit, bei einer Akutpflegesituation in der Familie ihrer Arbeit bis zu 10 Tagen fern zu bleiben. Weiter ist esBeschäftigten möglich, sich bis zu maximal6Monaten von der Beschäftigung ganz oder teilweise freistellen zu lassen, um die Betreuung eines nahen Familienangehörigen in häuslicherUmgebung zu übernehmen. Dabei handelt es sich um einen gesetzlichenAnspruch, der u.U. auch gegen denWillen des Arbeitgebers durchgesetzt werden kann. Ende 2011 lag die Zahl der Pflegebedürftigen, die zu Hause versorgt werden, nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bereits bei 1,76 Millionen Personen. Dabei geht es nicht nur um minderjährige Kinder. Wegen des demografischen Wandels haben immer mehr Arbeitnehmer auch ihre Eltern zu versorgen.
Es werden also Arbeitszeitmodelle benötigt, die Arbeitnehmer und die Unternehmen, für die sie arbeiten, in die Lage versetzen, dies zu organisieren.
Der Gesetzgeber sah über das PflegezeitGesetz hinaus Handlungsbedarf und verabschiedete am 20. 10. 2011 das Familienpflegezeitgesetz (FPfZG), das am 1. 1. 2012 in Kraft trat. Das Familienpflegezeitgesetz erlaubt es den betroffenen Arbeitnehmern ihre Arbeitszeit für maximal 24 Monate bis zu 15 Stunden zu reduzieren. Die Familienpflegezeit setzt im Gegensatz zur Pflegezeit die Zustimmung des Arbeitgebers voraus. Zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer muss also eine Vereinbarung getroffen werden.
Das „alte“ Pflegezeitgesetz und das „neue“ Familienpflegezeitgesetz schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern bestehen parallel nebeneinander. Es ist dem Beschäftigten also möglich, wenn die weitestgehend übereinstimmenden identischen Voraussetzungen vorliegen,

  • die Pflegezeit bis zu maximal sechs Monaten gegenüber dem ArbeitgeberinAnspruch zu nehmen,
  • oder gemeinsam mit dem Arbeitgeber eine Vereinbarung zu treffen und die ArbeitszeitimRahmen der Familienpflegezeit für maximal 24 Monate zu reduzieren.

Dabei können drei Arten der Pflege unterschieden werden:

  1. Zunächst die Pflegezeit nach §3Abs.1PflegeZG bis zu einer maximalenDauer von sechs Monaten. Der Arbeitnehmer kann in dieser Zeit den nahen Familienangehörigen pflegen. Die Ankündigungsfrist beträgt 10 Tage. Das Arbeitsentgelt wird entsprechend dem Arbeitsvolumen verringert bzw. eingestellt. Finanzielle Aufstockungen für den Arbeitnehmer gibt es nicht.
  2. Die sog. Akutpflege des §2Abs.1PflegeZG. Nach dieser Bestimmung kann ein Beschäftigter 10 Tage das nahe Familienmitglied ohne Ankündigung pflegen.Das PflegeZG spricht dem Arbeitnehmerfür diesen Fall kein Entgeltzu. Eventuell ergibt sich ein Entgeltanspruch aus§616BGB („ Vorübergehende Verhinderung“ bei engsten Familienangehörigen und begrenzt auf fünf Tage).
  3. Familienpflegezeit nach§2Abs.1FPfZG. Danach kann ein Arbeitnehmer über einen Zeitraum von maximal 24 Monaten einen nahen Familienangehörigen pflegen. Eine Ankündigungsfrist sieht das Gesetz nicht vor. Allerdings muss der Beschäftigte eine Vereinbarung mit dem Arbeitgeber treffen, der seine Zustimmung nur bei ausreichender Berücksichtigung der Interessen des Unternehmens geben wird. Während der Familienpflegezeit erhält der Arbeitnehmer ein verringertes Arbeitsentgelt, das um einen Aufstockungsbetrag des Arbeitgebers (= Hälfte der durch die Arbeitszeitverkürzung entstandenen Vergütungsdifferenz) angehoben wird. Der Familienpflegezeit schließt sich die sog. Nachpflegephase von mindestens gleicher Dauer an. In dieser Zeit werden die Aufstockungsleistungen des Arbeitgebers dadurch ausgeglichen, dass der Beschäftigte bei jetzt wieder voller Arbeitszeit weiterhin die verringerte Vergütung der Familienpflegezeit erhält.

Alle drei Arten der Pflege besitzen folgende Gemeinsamkeiten:

  • Es gilt absoluter Kündigungsschutz gem. §5Abs. 1 PflegeZG, §9Abs.3FPfZG.
  • Als Beschäftigte iSd beider Gesetze gelten alleArbeitnehmer undArbeitnehmerinnen, sowohl leitende als auch befristet beschäftigte Angestellte und Teilzeitbeschäftigte.
  • ZurBerufsbildungBeschäftigte, dass sind nicht nurAuszubildende sondern auchUmschüler oder Praktikanten.
  • GeringfügigBeschäftigte. Für diese sind dieAkutpflege und die Pflegezeit verfügbar. Die Familienpflegezeit aber wohl nicht, da die wöchentlicheArbeitszeit im Durchschnitt maximal 15 Stunden betragen darf.
  • Arbeitnehmerähnliche Personen und Heimarbeiter.
  • Zu den nahenAngehörigen zählen:
    • Eltern,Geschwister,Großeltern und auch Schwiegereltern
    • Ehegatten sowie Partner einer eingetragenen Lebensgemeinschaft und auch Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft
    • Die eigenen Kinder, Adoptiv- und Pflegekinder, Kinder des Ehegatten oder Partners einer eingetragenen Lebensgemeinschaft
    • Schwiegerkinder und Enkelkinder
    • Nicht aber Tanten und Onkel, Stiefvater, Stiefmutter, Kinder, Adoptiv- oder Pflegekinder des Partners einer eheähnlichenGemeinschaft.

Entgegen der vielen Möglichkeiten haben in der Praxis nur wenige Beschäftigte von den aufgezeigten Modellen Gebrauch gemacht. Denn kaum ein Arbeitnehmer kann es sich leisten, über einen Zeitraum von mehreren Jahren (Familien-/Pflegezeit und Nachpflegephase berücksichtigt) seine Familie mit reduziertem Gehaltzu ernähren!

Damit dürfte auch die Frage aus der Überschrift beantwortet sein: Ein Fehl- und kein Glücksgriff! Die eingestellte Financial Times Deutschland zählte in einer ihrer letzten Ausgaben das Familienpflegezeitgesetz daher bei neuen Gesetzen aus dem Jahr 2012 auch zu den „Flops des Jahrzehnts“.

Hans-Christian Agarius HansAdolf Welp
(Bachelor of Laws) (Fachanwalt für Arbeitrecht)