„Whistleblowing“ und das Recht auf Meinungsfreiheit
Ein „Whistleblower“ ist nach Wikipedia ein Hinweisgeber oder Informant, der Missstände wie illegales Handeln oder allgemeine Gefahren, von denen er an seinem Arbeitsplatz und in anderen Zusammenhängen erfährt, an die Öffentlichkeit bringt.
Wer Missstände beim Arbeitgeber publik macht, musste in der Vergangenheit immer mit Sanktionen einschließlich einer fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechnen. Begründet wurde dieses mit der Verletzung der arbeitsvertraglichen Treue- und Rücksichtnahmepflicht, wobei ein Verstoß nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ein wichtiger Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB darstellen kann, der zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses berechtigt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts übt der Arbeitnehmer mit Erstattung einer Anzeige gegen seinen Arbeitgeber ein grundrechtliches Freiheitsrecht nach Artikel 2 Abs. 1 GG aus, das ihm die Rechtsordnung ausdrücklich gewährt. Allerdings darf die Strafanzeige des Arbeitnehmers nicht auf wissentlich unwahren Vortrag beruhen und nicht als unverhältnismäßige Reaktion des Arbeitnehmers zu werten sein.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte am 21.07.2011 den Fall der Berliner Altenpflegerin Brigitte Heinisch zu entscheiden. Diese wies intern mehrfach auf die nach ihrer Meinung unhaltbaren Zustände in den Pflegeheimen des Gesundheitskonzerns Vivantes vergeblich hin. Schließlich zeigte sie ihren Arbeitgeber an. Es folgte eine fristlose Kündigung. Heinisch kämpfte sich sieben Jahre durch sämtliche Instanzen bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dieser gibt ihr schließlich Recht. Heinisch durfte ihren Arbeitgeber anzeigen. Der Gerichtshof stellt klar, dass Strafanzeigen von Arbeitnehmern gegen ihren Arbeitgeber mit dem Ziel, Missstände in ihren Unternehmen offen zu legen, dem Geltungsbereich des Art. 10 Europäische Menschenrechtskonvention (MRK) unterliegen und mit einer Strafanzeige vom Recht auf freie Meinungsäußerung im Sinne dieser Vorschrift Gebrauch gemacht wird. Der Gerichtshof stellt ausdrücklich fest, dass die deutschen Gerichte in dem jahrelangen Rechtsstreit keine gerechte Abwägung zwischen dem erforderlichen Schutz und der Rechte des Arbeitgebers einerseits und dem Schutz der Meinungsfreiheit der Arbeitnehmerin andererseits vorgenommen haben.
Folgende Aspekte sind nach Ansicht des Gerichtshofes von Bedeutung und gegeneinander abzuwägen:
- Die Loyalitätspflicht des Arbeitnehmers verlangt zunächst eine interne Klärung, bevor als ultima ratio die Öffentlichkeit informiert werden kann.
- Der Arbeitnehmer muss sorgfältig prüfen, ob seine Informationen zutreffend und zuverlässigsind.
- Auch der Schaden, der dem Arbeitgeber durch eine Veröffentlichung entstehen kann, ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung.
- Wesentlich ist außerdem, ob der Arbeitnehmer die Veröffentlichung in gutem Glauben und in der Überzeugung vornimmt, dass der zugrunde liegende Sachverhalt wahr ist, die Bekanntmachung im öffentlichen Interesse liegt und keine anderen, diskreteren Mittel existieren, um gegen den angeprangerten Zustand vorzugehen.
Der Rechtsstreit wurde dann an das zuständige Landesarbeitsgericht Berlin zurückverwiesen und endete wie so oft mit einem Vergleich:
Vivantes zahlt an Heinisch eine Abfindung in Höhe von 90.000,00 Euro.
Müssen Arbeitgeber jetzt mit einer Flut von Veröffentlichungen rechnen, die Interna an die Öffentlichkeit zerren, geschützt durch die Entscheidung des Gerichtshofes in Sachen Heinisch? Wohl kaum, wie eine noch nicht rechtskräftige Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Köln vom 02.02.2012 zeigt. Unter Berufung auf die oben zitierte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bestätigt das Landesarbeitsgericht eine fristlose Kündigung des Arbeitgebers. Dieser habe eine Interessenabwägung der Grundrechte von Arbeitgeber und Arbeitnehmer unter besonderer Berücksichtigung der Interessen der Allgemeinheit vorgenommen und zu Recht eine Kündigung ausgesprochen.
Dieser noch nicht rechtskräftige Fall zeigt, dass es trotz der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes keine Garantie für sogenannte Whistleblower gibt. Es gibt (noch) keine gesetzliche Regelung, die den Whistleblower schützt. Die vorhandenen Gesetze sind so unscharf, dass im Zweifel der Whistleblower erst im Kündigungsschutzprozess erfährt, ob ihn seine Handlung den Arbeitsplatz kostet. Die SPD legte im Anschluss an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte einen Gesetzesentwurf vor, der einen umfassenden Schutz für Mitarbeiter vorsieht, die sich direkt an die Öffentlichkeit wenden. Auch die Grünen haben einen eigenen Entwurf eingebracht, wobei noch nicht abzusehen ist, wie der Gesetzgeber sich entscheidet. Die Arbeitgeberverbände lehnen die Vorschläge ab. Experten halten von den Vorschlägen ebenfalls mit der Begründung nichts, dass jeder Arbeitnehmer zunächst verpflichtet sein soll, den Arbeitgeber zu informieren.
Dem Vernehmen nach will die Bundesregierung zunächst abwarten, wie die Gerichte auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes reagieren. Auf jeden Fall sollte jeder Arbeitgeber Möglichkeiten dafür schaffen, dass Mitarbeiter notfalls anonym Missstände offenbaren. Das Risiko, einen Arbeitsgerichtsprozess zu verlieren ist ohne gesetzliche Regelungen für beide Seiten, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, hoch!
Hans-Christian Agarius | HansAdolf Welp |
(Bachelor of Laws) | (Fachanwalt für Arbeitrecht) |